Julia Christ
Was braucht es, damit die vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegebene Zeitung die deutsche Ministerin für Kultur öffentlich zum Rücktritt auffordert? Die Entdeckung eines offen antisemitischen Gemäldes in der größten Ausstellung zeitgenössischer Kunst der Welt – der documenta, die seit 1955 alle fünf Jahre in Kassel stattfindet. Doch die bloße Präsenz des Bildes hätte vielleicht nicht gereicht, wäre der Angelegenheit nicht eine monatelange Diskussion über den allgemein antisemitischen Charakter der documenta 2022 voraufgegangen, zu der die Ministerin im Namen der Freiheit der Kunst nicht Stellung beziehen wollte. Die documenta, die in diesem Jahr einem indonesischen Künstlerkollektiv anvertraut wurde, das weitere Künstlerkollektive eingeladen hatte, die alle aus dem Globalen Süden kamen oder sich mit ihren Werken auf ihn bezogen, setzte auf ein weltoffenes Format und die Anliegen der Länder des Südens. Sie wollten die Idee einer engagierten Kunst verfechten und die Ausstellung selbst in ein politisches Werk verwandeln, das gegen Imperialismus, Kapitalismus, die Ausbeutung von Menschen und der Erde sowie gegen jede Form von Unterdrückung protestiert. In diesem schönen Programm jedoch ist kein Platz, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen oder sich mit dem Judenhass in den eigenen Reihen zu befassen. Das zumindest ist das Resultat auf das man nach zwei Wochen wilder Diskussion schliessen kann. Julia Christ berichtet über eine verrückte Zeit voller Debatten und Entschuldigungen in falscher Demut rund um das inkriminierte Werk.
Es gibt sie noch, die „Judensäue“ an den Kathedralen des heutigen Deutschlands oder in ehemals deutsch beeinflussten Ländern. Diese Skulpturen oder Reliefs stellen in der Regel eine Sau dar, deren Euter von Juden gesaugt werden, während andere Juden ihren kleinen Schwanz oder sogar das Hinterteil der Sau lecken. Die älteste dieser Darstellungen gibt der Sau ein jüdisches Gesicht, erkennbar an seinem Spitzhut. Im Allgemeinen werden die Tiere jedoch in ihrer natürlichen Form dargestellt, ohne Hybridisierung. Die Juden hingegen haben immer ein menschliches Antlitz. Nie hat das Mittelalter es gewagt, seinem Hass dadurch Ausdruck zu verleihen, dass es ihnen einen Schweinekopf aufsetzte. Der spätere Antisemitismus blieb diesem Schema relativ treu: Zwar gibt es Darstellungen von Schweinen oder Kraken mit karikiertem Judengesicht, aber nur Wenige eines Juden mit Tierkopf. In dieser Hinsicht hat die documenta fifteen, die derzeit in der Stadt Kassel stattfindet, das Versprechen eingelöst, auf das sie seit 1955 ihren internationalen Ruf gründet: zu zeigen, zu dokumentieren, was gerade Neues auf der Kunstbühne geschieht. So konnte man dort ein Werk ausgestellt sehen, bei dem diesmal der Jude einen Schweinekopf und nicht mehr das Schwein einen Judenkopf trug.
Natürlich gab das einen Skandal. Mehr als 100 Artikel innerhalb der Woche nach seiner Entdeckung am 19 Juni haben allein die größten Tages- und Wochenzeitungen des Landes hervorgerufen der Angelegenheit gewidmet. Radio und Fernsehen standen der Intensität der Berichterstattung in nichts nach.
Die Verantwortlichen der documenta, sowohl auf Seiten der logistischen als auch der künstlerischen Organisation, haben dabei alles dafür getan, um zur Verblüffung der öffentlichen Meinung beizutragen: Das fragliche Werk wurde erst nach dem offiziellen Pressebesuch aufgebaut, und der Skandal folgte auf eine Debatte folgte, die selbst schon seit mehreren Monaten andauerte und sich eben um die antisemitischen Tendenzen der documenta drehte, deren Organisation nicht einem Kurator anvertraut worden war, sondern einem Kollektiv des globalen Südens (ruangrupa). Dieses übertrug dann im Namen einer für den globalen Süden typischen Kunstauffassung anderen Kunstkollektiven aus der südlichen Hemisphäre die Aufgabe, die Ausstellung zu gestalten, indem diese entweder ihre eigenen Werke zeigten oder andere Kollektive einluden – oder beides. Dieses Pyramidensystem, das dazu beitragen sollte, mit der typisch westlichen hierarchischen Logik in der Kunstwelt zu brechen, in der ein verantwortungsbewusster Kurator entscheidet, was in seinen Augen ausstellungswürdige Kunst ist, hatte unmittelbar zur Folge, dass niemand einen Überblick über die Exponate hatte, die ausgestellt werden sollten. Das Gesamtwerk documenta als Ausstellung sollte sich bei der Eröffnung als Entdeckung erweisen, und zwar für jeden, einschließlich ihrer Organisatoren.
Schon vor der Eröffnung war jedoch klar, dass sich unter den eingeladenen Kollektiven keine israelischen Künstler befanden – was in gewisser Weise gerechtfertigt war, da Israel wahrscheinlich nicht zu den Nationen des « globalen Südens » zählt. Dass palästinensische Künstlerkollektive eingeladen wurden, war hingegen eine Selbstverständlichkeit, ungeachtet der Tatsache, dass Israel und die Palästinenser territorial aneinandergrenzende Gebiete bewohnen. Diese Einladungspolitik hatte zumindest den Vorteil, dass sie durch Fakten verdeutlichte, was die documenta-Verantwortlichen unter dem Globalen Süden verstehen, nämlich alle Unterdrückten dieser Welt, ob sie es nun aktuell sind oder in der Vergangenheit waren, vorausgesetzt, ihre Unterdrückungssituation kann mit vergangenen oder gegenwärtig wahrgenommenen Kolonialisierungstaten in Verbindung gebracht werden. Aber nichts davon hätte eine Debatte über den möglichen antisemitischen Charakter der Ausstellung ausgelöst, wenn sich unter den eingeladenen Kollektiven nicht mehrere befunden hätten, die ihre Solidarität mit den unterdrückten Palästinensern durch eine offene Unterstützung des BDS zum Ausdruck bringen. Dass mehrere Mitglieder des Auswahlkomitees, das für die Wahl von ruangrupa als « Kurator » verantwortlich war, ebenfalls eine offene Unterstützung für BDS an den Tag legten, machte die Sache nicht besser.
Eine Diskussionsreihe mit dem vielversprechenden Titel « We need to talk« , die die Berechtigung der Antisemitismusvorwürfe gegen die documenta-Konzeption diskutieren sollte, wurde schließlich im Mai 2022 abgesagt, nachdem der Präsident des Zentralrats die deutsche Kulturministerin darauf hingewiesen hatte, dass während der drei geplanten Diskussionstage kein einziger Vertreter der deutschen jüdischen Gemeinde eingeladen worden war. Die Begründung für diese schlichte, von ruangrupa einseitig beschlossene Absage war gespickt mit Klagen darüber, dass „Institutionen“ eine offene Diskussion verhinderten. Rückblickend liest sie sich wie eine schlechte Farce: „Die documenta wird zunächst die Ausstellung beginnen und für sich sprechen lassen, um die Diskussion dann auf dieser Basis sachgerecht fortzusetzen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Ziel, das die documenta mit der Gesprächsreihe erreichen wollte, einen multiperspektivischen Dialog jenseits institutioneller Rahmen zu eröffnen, nur schwer umsetzbar“[1]
Unglücklicherweise erwies sich allerdings die Ausstellung selbst – diese sachgerechte Grundlage also, die eine Diskussion ermöglichen soll, die nicht auf dem basiert, was die Organisatoren als den allzu engen Denkrahmen der Institutionen wahrgenommen haben – schließlich als mit Antisemitismus durchsetzt. Neben dem schweineköpfigen Juden, der eine Mütze mit der Aufschrift „Mossad“ trägt, befand sich auf demselben Gemälde – das von dem Kollektiv Taring Padi erstellt wurde und den Titel People’s justice trägt – eine weitere Darstellung eines Juden als Vampir mit scharfen Zähnen, der eine Hut mit SS-Runen aufhat.
Es wurde auch die Frage gestellt, ob die Serie „Guernica Gaza“ des Künstlers Mohammed Al Hawajri, die die totale Zerstörung Guernicas durch die Wehrmacht mit den Aktionen der IDF im Gazastreifen identifiziert, nicht etwas über das Ziel hinausschießt. Und was ist mit dem Film im Zentrum der Arbeit des Kollektivs „Subversive Film“, das die „’antiimperialistischen Solidaritätsbeziehungen’ zwischen Japan und Palästina“[2] durch die Zusammenarbeit zwischen der Terrorgruppe Japanische Rote Armee und der Volksfront für die Befreiung Palästinas dokumentieren will, die die Ermordung von 26 Zivilisten beim Anschlag auf den Flughafen von Lod 1972 zu ihren Ruhmesblättern zählt? Eine sachgerechte Grundlage für die Diskussion des Antisemitismusverdachts gegen diese documenta wurde somit tatsächlich durch die Ausstellung geschaffen. Angesichts der Folgemaßnahmen nach der Entdeckung der Leinwand mit den antisemitischen Karikaturen muss man jedoch annehmen, dass sie für die Organisatoren immer noch nicht objektiv genug war.
So hielten es die Gesamtleitung der documenta, ruangrupa und Taring Padi zunächst für angebracht, das Gemälde mit einer riesigen schwarzen Plane abzudecken. Da sich das Werk auf dem zentralen Platz des städtischen Raums befand, in dem die documenta stattfindet, kann man sich gut vorstellen, welche Wirkung diese Installation eines riesigen Trauerzeichens mitten in der Ausstellung hatte. Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Dass es sich hier um den Ausdruck von Trauer handeln sollte, ist keine bösartige „westliche“ Interpretation. Genau das war die bewusste Absicht. In einer ersten Pressemitteilung der künstlerischen Leitung der documenta erklärte sich das Kollektiv Taring Padi tatsächlich wie folgt:
„Taring Padi ist ein progressives Kollektiv, das sich für die Unterstützung und den Respekt von Vielfalt einsetzt. Unsere Arbeiten enthalten keine Inhalte, die darauf abzielen, irgendwelche Bevölkerungsgruppen auf negative Weise darzustellen. Die Figuren, Zeichen, Karikaturen und andere visuellen Vokabeln in den Werken sind kulturspezifisch auf unsere eigenen Erfahrungen bezogen.
Die Ausstellung von People’s Justice auf dem Friedrichsplatz ist die erste Präsentation des Banners in einem europäischen und deutschen Kontext. Sie steht in keiner Weise mit Antisemitismus in Verbindung. Wir sind traurig darüber, dass Details dieses Banners anders verstanden werden als ihr ursprünglicher Zweck. Wir entschuldigen uns für die in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen. Als Zeichen des Respekts und mit großem Bedauern decken wir die entsprechende Arbeit ab, die in diesem speziellen Kontext in Deutschland als beleidigend empfunden wird. Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment.[3]
Die Leinwand wurde also abgedeckt, um die traurige Tatsache zu verdeutlichen, dass kein Dialog möglich war. Und in den Köpfen der Verantwortlichen sollte das Werk so stehenbleiben, verhüllt, um diese Unmöglichkeit zu dauerhaft auszustellen. Aber worüber sollte ein Dialog geführt werden und konnte es leider nicht? Ganz klar darüber, dass die eine Kultur antisemitische Karikaturen verwenden darf, eine andere aber nicht. Darüber, dass das, was in einem bestimmten Kontext als völlig normal, ja sogar als fortschrittlich gilt, in einem anderen Kontext als beleidigend angesehen wird. Kurzum, was Taring Padi mit seiner Verhüllung markieren wollte, war der Provinzialismus Europas und Deutschlands im Besonderen; die Tatsache, dass die okzidentalen Kategorien zur Beschreibung einer bestimmten Art der Darstellung nur eine mögliche Art der Beschreibung der Realität sind. Dass der Westen immer noch nicht in der Lage ist, seinen eigenen Partikularismus anzuerkennen, war ein Zeichen der Trauer wert. Das Werk war nicht antisemitisch, so die erste Verteidigungslinie des Kollektivs und der documenta als Ganzes, es kann nur, im deutschen Kontext, als antisemitisch „gelesen“[4] werden.
Die deutsche Öffentlichkeit, so sehr sie sich auch provinzialisieren lassen möchte, wollte allerdings dann doch nicht so schnell vergessen, dass der Skandal der antisemitische Charakter des Werks war und nicht die Tatsache, dass Europa nicht bereit ist, es als das zu sehen, was es ist, nämlich Ausdruck einer spezifischen Kultur und einer eigenen Erfahrung. So wurde die Heiligsprechung des Werks durch seine schwarze Hülle heftig kritisiert. Am nächsten Tag erklärte sich die Generaldirektorin der documenta, die noch am Vortag den Diskurs über die verschiedenen möglichen Lesarten des Werks unterstützt hatte, nun aber von allen Seiten zum Rücktritt gedrängt wurde, bereit, das Werk abzuhängen. In der Begründung für diese Kehrtwende schlägt man einen neuen Ton an – an der Oberfläche:
Antisemitische Darstellungen dürfen in Deutschland, auch in einer weltweit ausgerichteten Kunstausstellung keinen Platz haben. Dies gilt ausdrücklich auch bei allem Verständnis für die Belange des Globalen Südens und die dort verwendete Bildsprache. Mit Respekt für die Unterschiedlichkeit der kulturellen Erfahrungsräume wird der mit der documenta fifteen begonnene Dialog weitergeführt.[5]
Zwar wird nun eingeräumt, dass das Werk auf antisemitische Darstellungen zurückgreift, doch der Verweis auf den Respekt für die Unterschiedlichkeit der kulturellen Erfahrungsräume und das tiefe Verständnis, das für die Bildsprache des Globalen Südens zum Ausdruck gebracht wird, lässt Zweifel an der Aufrichtigkeit des Zugeständnisses aufkommen. Vielmehr scheint es, als habe die Generaldirektorin akzeptiert, von einem deutschen Standpunkt aus über Antisemitismus zu sprechen, während sie gleichzeitig anerkennt, dass in anderen Kontexten diese Bildsprache möglicherweise nicht antisemitisch ist.
Zwei Tage später bestätigte sich dieser Verdacht. Das Auswahlkomitee der documenta fifteen, das schon vor der Eröffnung der documenta im Fokus stand, da dort mehrere offene BDS-Verfechter sitzen, gab seinerseits eine Pressemitteilung heraus. Nachdem sie erklären, dass sie die Entwicklung der Ausstellung nur aus der Ferne verfolgt hätten und daher in keiner Weise dafür verantwortlich gemacht werden könnten, ist das erste, was ihnen wichtig ist, ruangrupa zu ihrer hervorragenden Arbeit zu gratulieren und begeistert zu betonen, dass diese documenta das „Bild einer Welt, die aus vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus“[6] zeigt. Diese einleitenden Worte entkräften von vornherein alles, was an Bedauern oder Entschuldigungen folgt. Denn wenn es der fehlende Universalismus ist, der das Lob des Komitees verdient, fällt der Vorwurf des Antisemitismus in Bezug auf das inkriminierte Werk flach: um die antisemitischen Darstellungen auf Taring Padis Gemälde zu verurteilen, bedarf es eines universellen Begriffs von Antisemitismus. Zumindest wenn man sich nicht auf der Bühne verhandeln möchte, auf der von vornherein gesetzt ist, dass in Europa und insbesondere in Deutschland diese judenfeindlichen Darstellungen antisemitisch sind, während dies anderswo nicht der Fall ist.
Angesichts dieser einleitenden Worte ist es keineswegs verwunderlich, dass das Komitee zwar in drei Zeilen sein Bedauern über die „antisemitischen Karikaturen“ zum Ausdruck bringt, aber nur, um dann mit einer angesichts des Kontexts etwas erstaunlichen Feststellung fortzufahren: „Das Erbe des europäischen Kolonialismus und die anhaltende Matrix globaler Machtverhältnisse sind Themen, die fast alle Lebewesen dieses Planeten berühren.“ Es folgt eine lange Passage darüber, dass der Westen sich endlich mit diesem Erbe auseinandersetzen müsse, was zu der paternalistischen Feststellung führt, dass in diesem neuen Dialog zwischen Nord und Süd unweigerlich „Fehler“ gemacht werden, die im Voraus entschuldigt werden müssen, wenn sie vom Süden begangen werden. Dies führt zu dem abschließenden Ausdruck der „bedingungslose Unterstützung für die Fortsetzung dieses nicht-hierarchischen Pluriversums“[7], das die documenta fifteen sein soll.
Im Klartext: Menschen aus der südlichen Hemisphäre haben das Recht, „Fehler zu machen“, d. h. in diesem Fall, dass sie sich nicht über europäische und insbesondere deutsche „Empfindlichkeiten“ im Klaren sein müssen, wenn sie malen oder sprechen. Als ob das Problem darin bestünde, dass indonesische Künstler nichts über den Holocaust wissen, der für die Deutsche nunmal ein äußert peinliches Thema ist, und nicht in der Tatsache, dass sie hasserfüllte Darstellungen von Juden malen. Es ist so, als würde ein isländischer Künstler (um ein sehr nördliches Land zu nehmen) ein Werk schaffen würde, das schwarze Menschen auf empörende Weise karikiert, und sich dann damit entschuldigen, dass er nichts über die Geschichte der Sklaverei wisse. Mit anderen Worten: Es ist so, als ob man seinen Hass offen äußern darf, solange die Person, gegen die man ihn richtet, in der Vergangenheit nicht Opfer von Unterdrückung gewesen ist.
So absurd es auch klingen mag, es ist genau diese Argumentationslinie, die von den Hauptakteuren der Affäre, den Künstlern selbst, in der Folge vertreten wurde. Ihr Verdienst ist es jedoch, expliziert zu haben, dass ihr Wunsch, zu lernen, um keine „Fehler“ mehr zu machen, sich nicht auf den Opferstatus der Juden bezieht, sondern allein auf die europäische Befindlichkeit in Bezug auf Antisemitismus.
Nach diesen Stellungnahmen der westlichen documenta-Verantwortlichen meldeten sich also ruangrupa und Taring Padi zu Wort. Ruangrupa tat das am 23. Juni. Nachdem sich das Kollektiv dafür entschuldigt hatte, dass es den antisemitischen Charakter der Karikaturen nicht wahrgenommen hatte, fuhr es fort:
„Die Bildsprache knüpft, wie wir jetzt in Gänze verstehen, nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verfolgt und ermordet wurden.“[8]
Infolge dieser späten Einsicht verspricht das Kollektiv, den Anlass zu nutzen, um sich „über die grausame Geschichte des Antisemitismus weiterzubilden“ und sagt abschließend es stehe für
„offene, ehrliche Gespräche und kollektives Lernen bereit. Wir tun dies als Menschen mit Fehlern, Unzulänglichkeiten, Stärke und Courage und möchten alle, die bereit sind, uns auf Augenhöhe begegnen, zu einem kritischen und fruchtbaren Dialog einladen.“[9]
Am nächsten Tag veröffentlichte das für das Werk verantwortliche Kollektiv Taring Padi schließlich seine Pressemitteilung, in der die Themen der Entdeckung der „grausamen Geschichte des Antisemitismus“ und des Wunsches sich weiterzubilden und zu lernen aufgegriffen wurden. Daher beginnen sie mit den Worten: Wir haben aus unserem Fehler gelernt und erkennen jetzt, dass unsere Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen hat.“[10] Es folgt eine lange Kontextualisierung der Entstehungsgeschichte des Werkes, in der erklärt wird, dass es sich um eine Kritik an Militarismus und Gewalt handelt und dass Israel als Schwein mit Mossad-Mütze dargestellt wird, weil man es verdächtigt, durch geheime Unterstützung zur Diktatur von Suharto beigetragen zu haben. Schließlich drückt das Kollektiv seine Überzeugung aus, „dass ein offener und ehrlicher Dialog der beste Ansatz ist, um Lösungen zu finden und gemeinsam zu handeln.“[11]
Dieser Dialog fand am 29. Juni auf Initiative von Meron Mendel, dem Direktor der Anne-Frank-Begegnungsstätte in Frankfurt, statt. Kein einziges Mitglied von Taring Padi oder ruangrupa war bereit, daran teilzunehmen. Einige befanden sich im Publikum. Einer von ihnen stand zu Beginn der Debatte auf und sagte: „Wir sind hier, um zuzuhören und zu lernen“. Pause. „Wir sind hier“.
Diese Geste wurde von vielen als Ausdruck tiefer Demut interpretiert. Und Demut ist bekanntlich eine im Westen sehr geschätzte Tugend. Der Westen freut sich also über so viel Lernbereitschaft. Dies ermöglicht es ihm, ein bestimmtes Bild von Menschen aus dem Globalen Süden aufrechtzuerhalten, nämlich, dass sie noch nicht zivilisiert oder kultiviert genug sind, so dass man ihnen gnädiger Weise erlaubt, Fehler zu machen. Ob strategisch oder nicht, der Ausdruck des Wunsches nach Lernen, der so gut zu dem unbewussten Wunsch des Westens nach Überlegenheit passt, hat die Debatte über die eigentliche Frage beendet. Diese besteht immerhin darin, was man besser kennenlernen will. Die Geschichte des Holocausts? Aber warum? Offensichtlich, um nicht mehr zu verletzen … und zwar die Deutschen.
Die Idee ist so weit hergeholt, ja pervers, dass man sie kaum fassen kann. Aber es ist richtig, dass sich in der gesamten Debatte nie jemand bei den Juden entschuldigt hat. Bei der jüdischen Gemeinde in Kassel, wird man sagen? Gewiss, aber selbst in diesem Fall stand im Vordergrund, dass man deutsche Gefühle verletzt hatte. Wodurch? Indem man Karikaturen von Juden zeigte, die an Nazi-Karikaturen erinnerten, was die Deutschen unweigerlich an ihre Nazi-Vergangenheit zurückerinnerte. Eine Reminiszenz, die sie offensichtlich verletzt. Es ist also nicht so, dass man etwas über die Geschichte des Holocaust lernen möchte, um die Juden in die Kategorie „Unterdrückte dieser Erde“ aufzunehmen und sich mit ihnen solidarisch zu erklären. Nein: Wenn man diese Geschichte erkunden möchte, dann nur, um in der Zukunft zu vermeiden, die ehemaligen Mörder zu peinlich zu berühren.
Diese Idee ist reichlich unverständlich im Hinblick auf das allgemeine Programm der documenta, das ja nun darin besteht, den Westen auf seine Verbrechen gegenüber dem Süden hinzuweisen, deren Folgen bis heute aufzuzeigen und ihn zur Wiedergutmachung aufzufordern. Das „nicht-hierarchische Pluriversum“, das die documenta sein will, ist schon von seiner Form her eine Kritik an dem hierarchisch organisierten Universum nach Prinzipien mit universellem Anspruch, das der Westen der ganzen Welt aufgezwungen hat. Diese Kritik kennt kein Mitleid mit den Tätern. Sie will verletzen, auch wenn sie dies auf sanfte Weise tut, beispielsweise indem sie durch die Konzeption der documenta selbst ein Gegenmodell ausstellt. Ziel ist dennoch, den Westen mit den Verbrechen und der Gewalt konfrontieren, die aus seiner Weltanschauung hervorgegangen sind, in der Hoffnung, ihn zur Besserung zu bewegen.
Der Westen nimmt solche Kritik gerne auf; er will sich dezentrieren, offen sein, darauf verzichten, „Rassen“, „Kulturen“, „Religionen“ und „Geschlechter“ zu verletzen, zu verachten oder zu hierarchisieren. Er will den offenen Dialog auf gleicher Augenhöhe. Er will in Wohlwollen gegenüber dem Anderen sühnen. Dafür ist er bereit, beispielsweise darauf zu verzichten, die Situation von Frauen in bestimmten „Kulturen“ oder die von Homosexuellen oder Transgendern auf Augenhöhe zu diskutieren. Dies zu tun, würde bedeuten, seine universalistische Version in einem offenen Diskussionsraum durchzusetzen. Was er hingegen bislang immer noch nicht aufgeben will, ist, den Antisemitismus des anderen zu akzeptieren, „auch in einer weltweit ausgerichteten Kunstausstellung“ wie es die Generaldirektorin der documenta so schön formulierte. Es ist, als würde sich der verabscheuungswürdige Universalismus des Westens an das Verbot des Antisemitismus klammern. Für die Vertreter des Globalen Südens, die sich zu Wort gemeldet haben, ist das inakzeptabel. Auch dieses Universelle muss abgeschafft werden. Und das tut man, indem man die Sorge um den Antisemitismus zu einer besonderen Sorge erklärt und sie zu einer besonderen deutschen Befindlichkeit macht. Am Ende dieses Prozesses, wenn er erfolgreich ist, kann man Antisemit sein, wie man Jazz mag, vorausgesetzt, man belästigt mit seinen Vorlieben beim Nachbarschaftsfest nicht die Leute, die Rockmusik oder Juden mögen.
Unter den Völkern, die Opfer der Geschichte sind, gibt es eines, das um keinen Preis Opfer sein darf. Damit es also solches nicht gesehen und anerkannt wird, erklärt man sich sogar mit den ehemaligen Tätern solidarisch, deren Gefühle man nicht verletzen will, indem man sie taktlos sozusagen an ihr Verbrechen erinnert. Möglich, dass sich die Sache dadurch erklärt, dass dieses Volk dasjenige ist, das den Universalismus erfunden hat und nicht bereit ist, die Idee eines für alle geltenden Gesetz aufzugeben. Jeder, nur nicht die Juden, kann in das „nicht-hierarchischen Pluriversum“ integriert werden, das in Wirklichkeit ein Universum des gleichgültigen Wohlwollens und der billigen Nächstenliebe ist. Der Westen jedenfalls kann das problemlos, zumal diese Position des Wohlwollens es ihm erlaubt, paternalistisch gegenüber denjenigen zu bleiben, die er zuvor kolonisiert, unterdrückt, unterworfen und ermordet hat. Auf der Gegenseite ist man eher auf die Gleichgültigkeit dieser wohlwollenden Menschen gegenüber dem, was man zu Hause so veranstaltet, angewiesen. Im Großen und Ganzen aber kommt jeder hier auf seine Kosten.
Die Juden hingegen werden als eindeutig nicht integrierbar angesehen. Als Opfer des Westens, die am Universalismus festhalten, weil sie sich bewusst sind, dass der mörderische christliche Universalismus nicht die einzige ist, den es gibt, müssen sie von ihrem Opferstatus destituiert werden, um das schöne, heile Pluriversum der Versöhnung zu errichten, in dem jeder seinen Geschäften nachgeht, unter der Bedingung, dass er den anderen nicht direkt verletzt; dieses in Wirklichkeit sehr banal liberale Universum, das man uns in den Farben einer schönen heilen neuen Welt zu verkaufen versucht. In diesem Universum wird es keinen Platz für Juden geben. Aber man kann beruhigt sein: Antisemitismus wird dort immer noch bekämpft werden, dort nämlich, wo sein Ausdruck die Gefühle der ehemaligen Täter verletzt, die sich für den Augenblick immerhin noch ein wenig schämen. People’s justice demands no less.
Julia Christ
Notes
1 | https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/documenta-fifteen-reihe-we-need-to-talk-abgesagt-18005055.html |
2 | https://documenta-fifteen.de/lumbung-member-kuenstlerinnen/subversive-film/ |
3 | Pressemitteilung 20/06 (https://documenta-fifteen.de/pressemitteilungen/presseinformation-zur-verdeckung-einer-arbeit-von-taring-padi-auf-der-documenta-fifteen/) |
4 | Ibid. |
5 | https://documenta-fifteen.de/pressemitteilungen/statement-von-dr-sabine-schormann-zur-deinstallation-des-banners-peoples-justice-von-taring-padi/ |
6, 7 | https://documenta-fifteen.de/pressemitteilungen/findungskommission-der-documenta-fifteen-zur-deinstallation-von-peoples-justice/ |
8, 9 | https://documenta-fifteen.de/pressemitteilungen/dismantling-peoples-justice/ |
10, 11 | https://documenta-fifteen.de/pressemitteilungen/statement-von-taring-padi-zum-abbau-des-banners-peoples-justice/ |